16.05.2023
Dominic Diers ist Autist und hat ADHS – und arbeitet seit fast zwanzig Jahren erfolgreich bei MAN. Heute arbeitet er als Digitalization Expert Learning in der Sales & Customer Service Academy am MAN Hauptsitz in München. Seit 2006 hatte er bei MAN mehrere Positionen inne, von Technischer Dokumentation über Weiterbildung, bis hin zu Kommunikation. Ein Interview über Autismus und Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung (ADHS) in der Arbeitswelt, sein Bedürfnis nach Regeln und Strukturen im Team sowie seine Hoffnungen für neurodiverse Menschen wie ihn.
DOMINIC: Autismus ist keine Krankheit. Ich sage daher „ich bin Autist“ und nicht „ich habe Autismus“. Stattdessen bedeutet es einfach, neurologisch anders als die Norm zu sein, aber damit nicht falsch. Ich wünsche mir, dass die Menschen akzeptieren und anerkennen, dass es Personen gibt, die komplett anders denken und wahrnehmen. Die Menschen sollten am liebsten mit uns, anstatt über uns sprechen, damit Autisten nicht aus ihrer eigenen Themendebatte ausgegrenzt werden.
DOMINIC: Wir Autisten werden oft in eine Außenseiterrolle gedrängt, erfahren häufig Ablehnung durch das soziale Umfeld, bis hin zu sozialen Vergeltungsmaßnahmen wie Mobbing. Das kommt vor allem aus der sozialen Unangepasstheit in unserer Kommunikation. Je nach den Umständen können wir absolute Low- oder High-Performer sein. Diese und andere Gründe führen dazu, dass wohl nur fünf Prozent von uns eine Arbeitsstelle haben, obwohl viele große Innovationen auf Autisten oder ADHSler zurück gehen. Um in der Arbeitswelt bestmöglich zurecht zu kommen, betreiben wir oft extrem kraftraubendes „Masking“ – wir versuchen, uns bestmöglich anzupassen und nicht aufzufallen. Durch diesen Dauerstress ist unsere Lebenserwartung statistisch gesehen 16 Jahre geringer.
DOMINIC: Als Autist und ADHS-ler bin ich neurodivers. Durch die Kombination aus Beidem ist mein Gehirn extrem assoziativ vernetzt. Ständig laufende Assoziationen triggern so viel an Gedanken und Vorstellungen, dass mein Gehirn dann einfach seinen Lauf nimmt und mein Fokus abgleitet. Daher liegt zum Beispiel auf meinem Schreibtisch nur das, was ich wirklich brauche. Und fast immer trage ich bei der Arbeit Kopfhörer, die Umgebungsgeräusche gut abhalten. Sonst lenkt mich zu viel ab.
Als kulturdivers beschreibe ich mich, da ich als Kind einer deutschen Auswandererfamilie bis zum 12. Lebensjahr in den USA aufgewachsen bin, die meiste Zeit davon auf der hawaiianischen Insel Oahu. Besonders war dort, dass fast alle Inselbewohner einen Migrationshintergrund hatten und es daher keine „Leitkultur“ gab. Für uns Kinder war es völlig normal, dass jeder zuhause eine andere Sprache sprach, anderes Essen aß, eine andere Religion hatte, andere Feste feierte und andere Gewohnheiten hatte. Als Autist auf dieser Insel voller diverser und offener Menschen bin ich gar nicht negativ aufgefallen und hatte auch keine Probleme.
DOMINIC: Die Kombination ist wie eine Special-Edition der Neurodiversität, denn auch bei Autisten gibt es natürlich ein ganzes Spektrum. Ohne ADHS sind die Leute wohl öfters introvertierter und strukturierter. Durch die Kombi mit ADHS ist das kreative, das „Out of the box“-Denken noch stärker ausgeprägt. Das kann man sich bildlich so vorstellen: ADHS ist wie der Wind, der durch das Fenster rein weht und die Blätter auf dem Tisch durcheinanderbringt und völlig anders zueinander würfelt. Dadurch entstehen neue Assoziationen und Innovationen können durch Zufall entstehen.
DOMINIC: Ich sehe mich als „Hund in einer Katzenwelt“, der für eine „kranke Katze“ gehalten wird. Ich sehe nur aus wie eine Katze, aber bin ein Hund. Ich kommuniziere anders, eben wie ein Hund, der bellt und rumspringt. Katzen nehmen das als Bedrohung wahr und fahren die Krallen aus. Das ist also ein völliges Missverständnis in der Kommunikation. Aus den schlechten Erfahrungen verändert man sich und so fängt der Hund an, zu versuchen, sich wie eine Katze zu verhalten. Das klappt manchmal mehr und manchmal weniger.
DOMINIC: Wenn es im Team Klarheit, Rollenverbindlichkeit und Disziplin bei der Einhaltung von Regeln gibt, dann geht es mir gut. Dann kann ich perfekt abliefern und zum High-Performer werden. Daher sind wir Autisten sehr formal, prozessual und lieben Regeln. Je mehr unklare Situationen herrschen, je offener und chaotischer es ist, desto schlechter geht es mir. Dann werde ich als Under-Performer wahrgenommen. Ich will aber natürlich trotzdem gute Arbeit leisten und brauche so einen extremen Energieaufwand. Führungskräfte sollten verstehen, dass für mich Regeln und Strukturen nicht nur ein „nice to have“ sind, sondern die Bedingung für gute Arbeit. Das ist wie mit einem Sportwagen: Auf der Rennstrecke ist er schnell, abseits der befestigten Straße aber kommt er einfach nicht weiter.
DOMINIC: Die so genannte „monkey time“, wenn man bildlich gesprochen mit der Liane von Ast zu Ast schwingt, also die Zeit zum Einstellen auf ein anderes Thema, ist bei mir und anderen Autisten relativ lange. Wenn ich bei der Arbeit aus meinem Hyperfokus gerissen werde, brauche ich sehr lange für die Umstellung auf das nächste Thema. Das ist auch bei der Aufgabenzuteilung relevant.
DOMINIC: Trotz meinem Bedürfnis nach Struktur und Regeln, liebe ich das Kreative, das Schaffende, wie Texten oder Medienproduktion – gerne aber in einem Rahmenwerk wie etwa einem Redaktionshandbuch. Durch die spontanen Ideen und die Verknüpfungen fremder Dinge, die mir häufig in den Kopf kommen, bin ich auch gut darin, kreative Lösungen für Probleme zu finden.
DOMINIC: Das Wichtigste ist, dass sich niemand als Autist für sich selbst schämen muss. Wir sind nicht gleich, wir sind anders als neurologisch typische Menschen. Wir sprechen ungefiltert und treffen dabei manchmal auf Empfindlichkeiten. Das ist keine böse Absicht und beinhaltet keine versteckten negativen Botschaften, sondern resultiert einfach daraus, dass wir Autisten vor allem auf der Sachebene kommunizieren. Für diese Art, die manchmal als kommunikative Unbeholfenheit aufgefasst wird, wünsche ich mir ein gewisses Verständnis.
DOMINIC: Habt Mut auf allen Seiten! Den noch versteckten Autisten möchte ich Mut geben, sich zu outen. Traut euch, zu offenbaren, wie ihr seid und welche Probleme ihr habt. Verfallt nicht darin, können zu wollen, was die anderen können. Und versucht nicht euch zu „maskieren“, sondern steht dazu, dass ihr anders seid. Und alle anderen möchte ich zu mehr Mut aufrufen, sich selbst zu hinterfragen, von persönlichen Befindlichkeiten abzurücken und stattdessen zu erkennen, dass das Gegenüber nur eine andere – nicht falsche – Art der Kommunikation hat.
Diversity & Inclusion bei MAN ist Teil eines umfassenderen Nachhaltigkeitsansatzes, der die Entwicklung unseres Unternehmens, unserer Produkte und unserer Dienstleistungen in Zusammenarbeit mit unseren Lieferanten, unseren Kunden und unseren Standorten beschreibt. Mitarbeitende mit verschiedenen Perspektiven sind besser darin, Probleme zu identifizieren, neue Lösungen zu finden und die Bedürfnisse der Kundinnen und Kunden zu verstehen. Unterschiede stärken uns. Deshalb wollen wir das Potenzial der Vielfalt in unserem Unternehmen nutzen, um maximale Geschäftserfolge zu erzielen.
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Text: Renate Wachinger
Fotos: MAN