16.05.2022
„Geiles Ding, oder?“, raunt einer in der Menge. Und da rauscht er auch schon wieder vorbei. Der seriennahe Prototyp eines elektrischen 40-Tonners von MAN dreht im Hangar 5 des alten Berliner Flughafens Tempelhof ein paar zügige Runden, fast geräuschlos und mit erstaunlicher Dynamik. Auf dem Beifahrersitz: der deutsche Verkehrsminister Volker Wissing. Als er aussteigt, spricht sein Lächeln Bände.
Der Minister ist nicht nur für die Testfahrt zum Flughafen Tempelhof gekommen. Bei einer Diskussionsrunde mit Alexander Vlaskamp, Vorstandsvorsitzender von MAN Truck & Bus, und Frank Mühlon, CEO von ABB E-Mobility, geht es um die elektrische Antriebswende bei schweren Lkw, vor allem auch im Fernverkehr – und um notwendige Weichenstellungen der Politik.
Die Elektrifizierung schwerer Lkw ist ein wichtiger Baustein der Verkehrswende: Im Fernverkehr könnten 100.000 elektrisch angetriebene 40-Tonner jährlich bis zu 10 Millionen Tonnen CO₂ einsparen. Neben der Entwicklung neuer Fahrzeuge ist für die Nutzung aber auch der Aufbau einer leistungsfähigen Infrastruktur erforderlich. Der elektrische MAN-Truck, der 2024 auf den Markt kommen wird, schafft Tagesreichweiten bis zu 800 Kilometer, aber er kann noch viel mehr: Er wird für eine neue Generation des Schnellladens bereit sein, das Megawatt-Laden.
Lkw brauchen große Batteriepacks, damit sie auf vergleichbare Reichweiten kommen wie Verbrenner. Und um diese wiederum schnell genug laden zu können, ist eine deutlich höhere Ladeleistung als bisher erforderlich. MCS (Megawatt Charging System) wird der neue Standard heißen, der den Strom in großen Mengen schnell ins Fahrzeug bringen soll – bis zu mehrere Megawatt Ladeleistung sollen einmal möglich sein. Mit dem aktuell gebräuchlichen Schnellladestandard CCS kann nur mit maximal 375 kW geladen werden.
Für die Einführung der Megawatt-Ladetechnologie ist ein verbindlicher und einheitlicher Standard zentral. Ebenso wichtig sei aber auch die schnelle Verfügbarkeit der Technologie, betont Alexander Vlaskamp. „Der beschleunigte Ausbau der Ladeinfrastruktur ist die einzige Möglichkeit, die Verkehrswende herbeizuführen und die Klimaziele zu erreichen.“ Vlaskamp berichtet vom Engagement des eigenen Konzerns, der einen Einstieg in diesen Ausbau leistet: „Als Teil der TRATON Group engagieren wir uns auch selbst bereits in einem Joint Venture mit Industriepartnern für Aufbau und Betrieb eines öffentlichen Hochleistungsladenetzes mit europaweit mindestens 1.700 Ökostrom-Ladepunkten als Ziel.“
MAN hatte sich für die Fahrdemonstration seines kommenden Elektro-Lkw mit einem der weltweit führenden Anbieter von Ladelösungen und Spezialisten für Megawatt-Laden – ABB E-Mobility – zusammengetan, um das klare Statement abzugeben: Fahrzeughersteller und Ladeinfrastrukturausrüster sind bereit, die Elektrifizierung des schweren Fernverkehrs anzugehen. ABB blickt auf eine 130-jährige Geschichte zurück und ist seit 2010 in der E-Mobilität aktiv.
Frank Mühlon beschreibt im Gespräch mit Verkehrsminister Wissing und Alexander Vlaskamp die Herausforderungen der neuen Technologie und zeigt sich erfreut über die bisherigen Fortschritte. „Bei den absehbaren Anwendungsfällen sind elektrische Sicherheit und Zuverlässigkeit auf Systemebene elementar, unsere Technologien sind prädestiniert dafür. Unser Ziel ist es also, diese neue Technologie bereits innerhalb von drei Jahren zur Marktreife zu führen“.
Der neue MCS-Standard wird demnächst auch in der Praxis erprobt – unter wissenschaftlicher Begleitung des Fraunhofer-Instituts für System- und Innovationsforschung. Mit Förderung des Bundesministeriums für Digitales und Verkehr werden entlang der Autobahn A2 vier Standorte mit MCS-Ladestationen errichtet worden. Dort wird das Projekt Hochleistungs-Laden (HoLa) Erkenntnisse, die beim flächendeckenden Ausbau helfen sollen, sammeln. Deutschland könnte beim MCS-Laden Maßstäbe setzen: Mehr als 20 Partner aus Industrie und Wissenschaft, darunter MAN und ABB, arbeiten im Projekt Hochleistungs-Laden zusammen.
Laut europäischer Herstellervereinigung ACEA werden bis 2025 europaweit 10.000 bis 15.000 öffentliche Ladepunkte mit hoher Ladekapazität benötigt. 2030 müssten es bereits 40.000 bis 50.000 Ladepunkte sein, um die umfassende Elektrifizierung des Straßengütertransportes zu ermöglichen.
Text: Julia Fiedler
Fotos: MAN