29.09.2023
In Ulm hat MAN gemeinsam mit Partnern den Einsatz autonomer Lkw in einem Containerterminal entwickelt und erprobt. Die Technik funktioniert.
Mit dem Druck auf einen großen roten Knopf startet das Projektteam an den Containerumschlaganlagen der Deutschen Bahn für den Kombinierten Verkehr aus Straße und Schiene in Dornstadt bei Ulm in die Zukunft: Zum ersten Mal wird die Öffentlichkeit Zeuge, wie sich der in Apfelgrün lackierte MAN TGX 18.510 autonom von seiner Parkposition losfährt, einen Container im Container-Depot der DB Intermodal Services (DB IS) aufnimmt, den Kreisverkehr zwischen Container-Depot und Terminal durchquert und zielsicher Raster 26 im DUSS-Bahn-Verladeterminal anfährt. Dort erwartet ihn bereits der Kran, der den Container übernimmt.
Das Besondere dabei: Alle Aktionen des Trucks werden automatisch ausgeführt – von der Anmeldung beim Disponenten über die Auftragsanfrage beim Kran bis zum Be- und Entladen. Dazu wurden Schnittstellen zwischen allen Akteuren geschaffen, die gesamte Missionsplanung ist voll digitalisiert. Auch die Fahrt selbst klappt ohne menschliches Zutun: Durch GPS-Daten und eine umfangreiche Sensorik fährt der Truck autonom zwischen dem DB-IS-Depot und dem DUSS-Terminal. Der Sicherheitsfahrer am Steuer hat während der Entwicklungsfahrten nur eine Überwachungs- und Bestätigungsfunktion.
Der Truck selbst ist eine handelsübliche Sattelzugmaschine vom Typ MAN TGX 18.510. Er sieht allerdings etwas außerirdisch aus mit seinen beiden Hesai-Lidar-Anlagen, die auf Höhe der Windschutzscheiben-Unterkante sitzen und für die Objekterfassung zuständig sind. Sie teilen sich die Arbeit mit vier weiteren Lidar-Systemen, sechs Radargeräten und neun Kameras. Das ganze System ist redundant, sodass bei Ausfällen eines Systems ein anderes übernehmen kann.
Der selbstfahrende MAN Truck ist Hauptprotagonist von ANITA (Autonome Innovation im Terminal-Ablauf), einem Forschungs- und Praxisprojekt, das einen Blick auf die künftige umweltfreundliche Verschmelzung von Straßen- und Schienengüterverkehr zeigt. Nach rund drei Jahren Projektdauer und dem abschließenden, sechsmonatigen Praxistest im laufenden Betrieb des Containerumschlagplatzes freut sich MAN Entwicklungsvorstand Dr. Frederik Zohm: „Wir haben unsere Projektziele erreicht.“ Und Ernst Stöckl-Pukall, Leiter des Referats „Digitalisierung, Industrie 4.0“ beim Bundesministerium für Wirtschaft und Kilmaschutz ergänzt: „Der Projektanfang war herausfordernd durch die Pandemie und Ukrainekrieg, jetzt sind alle begeistert vom Ergebnis.“
Unkompliziert war es nicht, das ambitionierte Projekt umzusetzen. Denn das Team aus MAN Truck & Bus SE (autonomer Lkw), Deutsche Bahn AG (Logistik, Containermanagement, Testumfeld), der Hochschule Fresenius (Systemanalyse, Vernetzung) und der Götting KG (Technologieberatung zur Objektortung und Umgebungserfassung) betrat mit der vollständigen Integration eines autonomen Lkw in alle Abläufe eines laufenden Containerumschlagbetriebs Neuland.
Die Projektziele waren ambitioniert: Der „Newton“ getaufte Truck sollte in der realen Umgebung der Containerumschlaganlagen in Dornstadt bei Ulm, mit ihren 300 bis 400 Umschlägen pro Tag, reibungslos autonom fahren und dem Fahrer alle Aufgaben von der Entgegennahme des Auftrags, der Kommunikation mit Disponenten und Staplerfahrern bis zum vollautomatischen Aufladen und Verriegeln des Containers abnehmen – und dabei immer seine Umgebung in Echtzeit im Auge haben, auf unvorhergesehene Aktionen oder Fußgänger achten und Hindernisse sicher erkennen. Das Besondere dabei: Die Testläufe fanden im laufenden Betrieb des Containerumschlags statt, mussten sich also von Anfang an den komplexen Abläufen auf dem Gelände anpassen und durften dabei nicht stören.
Damit ANITA übertrag- und skalierbare Ergebnisse für die künftige Integration autonomer Trucks in die Prozesse von Logistikhubs und fahrerlose Lkw-Verkehre zwischen Logistikknoten liefern kann, waren Aufgaben zu lösen, die weit über das fahrerlose Fahren hinausgehen: Neben der sicheren Erkennung von Hindernissen mit Lidar, Radar und neun Kameras musste auch die komplette Kommunikation digitalisiert werden.
Für ANITA wurden alle analogen Prozesse analysiert, die sonst der Fahrer erledigt, und in ein digitales Regelwerk übertragen. Das bildet die Grundlage für die digitalen Kommunikationsschnittstellen, was auch nicht ohne Tücke war: „Wir haben hier ein kommunikationsintensives Multi-Agenten-System mit verschiedenen Akteuren wie Lkw-Fahrer sowie Kran- und Stapler-Führer, die unterschiedliche Kommunikationsformen wie Sprache oder Gesten nutzen“, erklärte Prof. Dr. Christian T. Haas von der Hochschule Fresenius, die für die aufwendige Systemanalyse zuständig war. „Um das zu automatisieren, mussten wir unterschiedliche Systeme miteinander verheiraten, damit Maschinen und Datenbanken miteinander reden können.“ Am Ende stand die voll digitalisierte Missionsplanung.
Neben mehr Sicherheit im Containerumschlag verspricht ANITA vor allem mehr Effizienz. Das System ist 24 Stunden einsatzfähig und kann Missionen durchführen, während der Fahrer seine Ruhepausen macht. „Das bedeutet höhere Flexibilität, gerade auch mit Blick auf den zunehmenden Fahrermangel“, erklärt Dr. Zohm. „ANITA ist für MAN eine wichtige Grundlage, um autonome Lkw ab 2030 für die Verkehre zwischen Logistikhubs wie Ulm als Serienlösungen auf die Straße zu bringen. Konkrete Logistikanwendungen und der Kundennutzen stehen für uns daher bei allen Automatisierungsprojekten von Anfang an im Fokus.“
Großes Potenzial für ANITA sieht auch Projektpartner DB: „Der Kombinierte Verkehr zwischen Schiene und Straße wird in den kommenden Jahren weiterwachsen und eine wichtige Rolle bei der Verlagerung auf die umweltfreundliche Schiene spielen“, erklärt Dr. Martina Niemann, Vorständin der DB Cargo für Finanzen, Controlling und Angebotsmanagement. Sinnvoll und CO2-verträglicher sei es, Lkw vor allem für die kurzläufige Verteilung zu nutzen, für die Langstrecke dagegen die Bahn. „Dafür müssen die komplexen Abläufe in den Terminals effizienter gestaltet und beschleunigt werden. Das gelingt nur, wenn wir Logistikprozesse weiter automatisieren und digitalisieren. Wie die Zukunft in den Terminals aussehen kann, hat ANITA heute eindrucksvoll gezeigt“, so Niemann. Und gerade der Einsatz autonomer Lkw bietet dabei großes Potenzial, das hat das Projekt klargemacht: Bis zu 40 Prozent Effizienzgewinn sind im Durchlauf durch den Umschlagsprozess damit möglich.
Und wie geht es jetzt weiter? Die Projektpartner sind sich einig, dass die Skalierung die nächste große Aufgabe ist. Mit ANITA wurde ein neuer, zukunftsträchtiger Basisstandard erarbeitet, und die technische Beschreibung sowie die Umsetzungserfahrung liegt vor. „Wir haben mit ANITA einen Mehrwert geschaffen, indem wir viele kleine Bausteine zusammengefügt haben. Das ist ein großer Schritt für den zukünftigen Einsatz autonomer Lkw“, resümiert Dr. Zohm. Dafür müssten noch viele Aufgaben gelöst werden – doch wie die Zukunft aussehen kann, konnte man Ende September bereits auf dem Containerterminal in Dornstadt bei Ulm erahnen.
Text: Ralf Kund
Fotos: MAN